Sonntag, 6. August 2006

Hohe Zeiten bei Familie B.

Die Jahre sind vorbei, in denen man zum Heiraten nach Gretna Green oder Las Vegas geflogen ist, einfach um mal was Außergewöhnliches zu tun, oder um die peinliche Entscheidung vor der Verwandtschaft und den Freunden zu verbergen wie ihrerzeit die Kaltmamsell. Jetzt stehen sie wieder Schlange in den Standesämtern und vor den Altären. Der Mister war am vergangenen Wochenende irgendwo bei einer Vermählung, Frau Modeste war nicht auf dieser sehr gelungenen Hochzeit und der Herr B. und ich konnten gestern nicht umhin.

Das darf jetzt beileibe nicht danach klingen, als wollten wir da nicht hin. Im Gegenteil, ich gehe gerne auf Hochzeiten. Nicht weil ich hämisch diesen Augenblick der Vorprogrammierung des Scheiterns auskosten will, sondern weil ich diese Massenveranstaltungen, in denen zwei sich gänzlich unbekannte Familienclans aufeinanderprallen, als Beobachterin bis zur Neige auskoste. Ich liebe es!

Also wir beide los, der Herr B. im Smoking und ich im Kleinen Schwarzen. Lokationen und Kleider, das sind ja auch immer wahre Quellen der Freude. Wir und diesmal zum Beispiel, weil bei B's das so üblich ist, aufgebrezelt wie Models, aber auf einem umfunktionierten Reiterhof in der mitteldeutschen Pampa! Die Kombination aus Menschen in ungewohnter und eindeutig overdresster Ausstattung und in einer Umgebung, die olfaktorisch geprägt ist von hochsommerlichem Dungduft und in Bezug auf die Fauna durch schillerde Schmeißfliegen, hat eine gesellschaftliche Wucht, die es unbedingt auszukosten gilt.

Für ersten Gesprächsstoff sorgt der nicht vorhandene Gesprächsstoff. Weil Hochzeiten den Menschen ja aus dem prallen Leben herausreißen wie der Gärtner die reife Karotte aus der Erde, verbringen Gäste auf Vermählungsfeiern die Wartezeiten grundsätzlich mit Handytelefonaten. Was sonst sollten sie denn auch tun? Die mangelhafte Netzanbindung in der mitteldeutschen Pampa verhindert diesmal zwar die geballte Kommunikation mit der zurück gebliebenen Außenwelt. Aber sie sorgt auch dafür, dass sich deplatziert fühlende Jungmenschen jeden Alters sich mit Frage- und Antwortspielen über den Pegelausschlag ihrer Mobilgeräte in verschiedenen Lagen des Lebens austauschen. Wussten Sie beispielsweise schon, dass angabegemäß in der Sahara bessere Empfangsbedingung für Mobiltelefonie herrschen als mitten in diesem unserem Lande?


Die Feierlichkeiten laufen ab wie geplant, oder manchmal auch wie nicht ganz so geplant, aber ich will gar nicht in Details gehen, bis auf den einen kurzen Hinweise, dass inzwischen Bürotechnik bis in die Nische von Familienfeierlichkeiten eingedrungen ist, weil keine Diavorträge mehr gehalten werden, sondern die Verwandtschaft Arsenale von Laptops mitschleppt und an diesem Samstag den drei Wortbeiträgen der Brautpaareseltern ganze sechs Power-pointierte Präsentationen gegenüberstehen, die teilweise gar noch vor Ort mit Bildmaterial und Filmmaterial von der mittäglichen Kirchenzeremonie angereichert wurden.

Wie ich da so sitze am aufgelösten Kindertisch, weil man kann so alt werden wie es eben nur geht, man bekommt doch immer den Platz am Kindertisch, solange man nicht verheiratet ist und eigene Kinder hat; wie ich also dort sitze ist die schreiende Kinderhorde längst irgendwo auf dem Reiterhof versickert und mir gegenüber hat dieser junge Kerl, den ich nicht kenne und noch nicht mal weiß, ob er aus Herrn B's Verwandtschaft oder der gegnerischen Familie stammt, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt und sieht mir zu, wie ich mir die Rocherkugel gebe. Ganz ehrlich, zusehen trifft es nicht, was er da tut. Er starrt mir auf die Finger, auf den Mund und erzählt dabei diese Geschichte, von der ich nicht weiß, ob sie wahr ist oder nur gut erfunden.

Hast du gewusst, fragt der Kerl, der die Schickse einfach duzt, weil sich alle duzen auf der Hochzeit, hast du gewusst, dass es im Regenwald in Bolivien, irgendwo im Amazonasgebiet einen Indiostamm gibt, die Sirionó? Da unten sterben sie vor Scham, wenn ihnen jemand beim Essen zusieht. Für Essen in der Öffentlichkeit gibt es sogar harte Strafen. Ich verschlucke mich am Schokonussbrei und muss husten. Aber dafür ist es bei den Sirionó gesellschaftlich vollkommen in Ordnung, fährt der Kerl fort, direkt unter den Augen anderen Leuten zu bumsen.

Ich huste immer noch und das ist meine Rettung, weil es mir Zeit verschafft für die Beantwortung der Frage, ob der Kerl anbändeln will, oder ob er einfach nur ein Freak ist. Schlecht sieht er nicht aus, ein bisschen jung vielleicht, aber ein markantes Gesicht hat er und gepflegte Hände. Und in den Anzügen und Kleidern sehen wir ja alle immer ein bisschen besser aus als im normalen Leben. Zum Abendessen habe ich zwei Gläser Rotwein getrunken, und der Kellner war nicht unbedingt sparsam gewesen beim Einschenken. Der Alkohol kribbelt mir im Bauch, wabert wie dünner Nebel in meinem Kopf, legt sich wie ein dämmendes Filztuch über meine Hemmschwelle und kitzelt gleichzeitig meine Libido. Lust hätte ich schon.
Also schiele ich sondierend hinüber zu Herrn B. zwei Tische weiter, der völlig versunken ist in ein Gespräch mit einer rothaarigen, blaßhäutigen Hexe, die ihn verträumt ansieht. Der ist versorgt, denk ich und beschließe den Gegenangriff.

Ich sehe meinem Gegenüber direkt in die Augen. Wer zuerst zwinkert, hat verloren. Mit seiner Indiogeschichte habe er es zwar geschafft, dass ich mich beim Essen schuldig fühlte. Aber das dürfe er jetzt keinesfalls so verstehen, dass ich auch in der Öffentlichkeit bumsen wolle.
Ein Schmunzeln zieht meine Mundwinkel nach oben und dekoriert meine Augen mit Lachfältchen, als ich zusehe, wie der Kerl rot anläuft und mit dem rechten Nasenflügel zu zucken beginnt. Ich kann nicht widerstehen und setze noch einen drauf: Welche Strafe für öffentliches Essen hast du dir denn für mich vorgestellt? So habe er das natürlich nicht gemeint, stammelt der Kerl und verhaspelt sich. Seine Finger verschränkt er in unterbewusster Abwehrreaktion.
Da bin ich wohl etwas zu schnell vorgesprescht? Es gibt Männer, die können es absolut nicht ab, wenn man ihnen beim Flirt das Heft aus der Hand nimmt. Sind sie auf dem Eroberungsfeldzug, dann fällt jede Zurückhaltung, sie setzen der Beute solange nach, bis sie sie gestellt haben. Macht das Opfer jedoch kehrt und stellt sich freimütig dem Verfolger, dann verlöscht der Instinkt und aus dem Jäger wird auf einmal der ernüchterte Klardenker, der vor der plötzlichen Herausforderung zurückschreckt und im wahrsten Sinn des Wortes den Schwanz einzieht.
Mir ist klar, dass ich einen Fehler gemacht habe. Die vermeintliche Abkürzung hat sich als Sackgasse erwiesen. Der Zauber des Moments ist vorbei, und dem verbalen Rückzieher des Kerls folgt ziemlich schnell auch der strategische. Er müsse jetzt mal für seinen Vortrag, ob ich ihn denn entschuldigen wolle.
Dieser Vortrag war dann übrigens gar nicht so dolle.


Einige Stunden später, Herr B. hat bei der Hexe auch nicht landen können und sich längst wieder solo an meiner Seite eingefunden, stolpern wir durch die Gebäudeflügel des alten Reitergutes auf der Suche nach unserem Zimmer. Der Hof liegt einsam auf weiter Flur und beherbergt nur geschlossene Gesellschaften. Deshalb gibt es ein ganze Menge Zimmer entlang der verwinkelten Gänge, und keinen der Räume kann man abschließen. Es gibt einfach keine Schlüssel. B. und auch die Schickse sind reichlich angeschickert und probieren kichernd ein paar Türen, weil sie nicht mehr sicher sind, wo sie lang müssen. Dann ist es auch schon passiert. Wir platzen in ein Zimmer, und dort auf dem Bett vögeln sich der Sirionó und die Rote Zora in größtenteils aufgelöster Bekleidung die Seelen aus den Leibern.

Ratsch, der Film reißt, die Szene friert ein. Sekundenlange Pause, alle starren sich gegenseitig an. Ich staune über den makellos weißen Körper von Rothärchen, sowas von vollkommener Ebenmäßigkeit habe ich noch nie gesehen. Und bei meinem Indiofreund ist sogar der Hintern braun gebrannt, stelle ich verwundert fest und muss schon wieder schmunzeln. Nach einer gefühlten halben Stunde des Starrens erlange als erste von uns vieren ich wieder die Fassung, schiebe Herrn B. durch die Türe hinaus auf den Flur und rufe den beiden auf dem Bett zu: Weitermachen wie am Amazonas, nur keine falsche Zurückhaltung! Prustend vor Lachen ziehen Herr B. und ich weiter, bis wir endlich irgendwo unser eigenes Zimmer wiederfinden.


Heute mittag auf der Heimfahrt will Herr B. wissen, was der Amazonasspruch zu bedeuten hatte. Ich berichte von den Sirionó und versäume auch nicht darauf hinzuweisen, dass man mit diesem Wissensgebiet offenbar problemlos den Aufriss rothaariger Hexen und anderer Frauen hinbekommt. Herr B. blickt düster wie die Wolken am Himmel hinter der Windschutzscheibe.

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