Erfunden

Montag, 9. Oktober 2006

Sommer auf Rügen (Epilog)

Sechs Tage nachdem Regina Zölis der Kommissarin Krüger alles erzählt hatte, was sie über Christoph Sander, Constantin Steiner, Carl Sturm und die Reinkarnation wusste, wurde Sturm in Warschau verhaftet. In den Monaten bis zum Prozessbeginn wurde die Buddha-Theorie von der Boulevardpresse rund um den Globus ebenso heiß diskutiert, wie in biologischen Fachzeitschriften. Leider konnte die Reinkarnation weder widerlegt, noch nachgewiesen werden, da in der Kopie des Manuskripts des angeblichen Erfinders die entscheidenden Seiten fehlten. Regina hatte diese entfernt, bevor sie Marietta Krüger in ihr Zimmer gebeten hatte. Auch das Original tauchte in keinem der Wohnsitze Carl Sturms auf.
Die Nadelstiche in ihrem und Tanja Winters Arm hatte Regina der Polizei ebenfalls verschwiegen. Was hätten Polizei und Medizin auch tun können? Bestenfalls wären Blondchen und sie als Monster durch die Hörsäle der Universitäten gereicht worden.

Wegen schwerer Körperverletzung an Regina Zölis und Mordes im Fall Sander wurde der zwanzigjährige Sturm insgesamt zu achtzehn Jahren Haft verurteilt. Sein Anwalt hatte ihm zwar geraten, auf Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren, doch dies lehnte der Angeklagte vehement ab. Er bestand beharrlich auf der Reinkarnationstheorie, bis er drei Jahre nach Strafantritt im Gefängnis unter misteriösen Umständen an schweren inneren Verletzungen des Darmes verstarb.

Im Rahmen des ganzen Rummels um die Buddha-Theorie wurde leider auch das sorgfältig gehütete Lebensgeheimnis der Kronzeugin Zölis ins grelle Licht der Weltpresse gezerrt. Zwar sorgte die Staatsanwaltschaft dafür, dass das Strafmaß bei ihrer eigenen Verurteilung wegen Steuerhinterziehung und unerlaubter Prostitution so gering wie möglich ausfiel. Doch Reginas Erspartes war dahin und ihre lukrative Tätigkeit musste sie danach ebenfalls an den Nagel hängen.


Nicht ganz zwei Jahrzehnte nach diesen Ereignissen spazierte Regina Zölis durch den Wiesbadener Stadtpark. Es war kein Zufall, dass sie ausgerechnet diesen Kiesweg entlang ging und schnurstracks auf eine graubraune Holzbank zusteuerte, auf deren Lehne zwei junge Mädchen um die zwanzig saßen. Die eine, dunkelhaarig und unscheinbar, sah Regina verständnislos aus flackernden Augen an, als sie vor den beiden Halt machte. Ihre blonde, hübsche Freundin jedoch blickte die ältere Frau nur einen Sekundenbruchteil an, bevor sich das Wiedererkennen mir einem Lächeln auf ihrem Gesicht abzeichnete.

Du bist also Regina Zölis, sagte das Mädchen bestimmt. Ich heiße eigentlich Tanja Winter, aber das weißt du ja schon. Nur nennen sie mich hier nicht mehr ›Blondchen‹, sondern ›Schickse‹.
Das Mädchen Schickse erhob sich von der Parkbank und machte einen Schritt auf Regina zu. Sie zögerte zunächst, griff dann aber doch nach der Hand der Älteren, die im Laufe der vergangenen Jahre zu einem Großteil ihres eigenen Ichs geworden war.

Ich hab eine ganze Menge Fragen, setzte Tanja an. Aber zu allererst würde ich gerne wissen, ob du es aus heutiger Sicht immer noch so klasse fändest wie damals, mit Männern für Geld ins Bett zu gehen.

Der Dunkelhaarigen auf der Parkbank klappte der Unterkiefer herunter, und Regina Zölis musste unwillkürlich lächeln. So fühlte sich das also an.

Freitag, 6. Oktober 2006

Sommer auf Rügen (8)

Mit zitternden Händen streifte sich Regina Zölis in einer Toilettenkabine des Restaurants den Pullover über den Kopf. Sie hielt ihre linke Armbeuge in das Licht der Neonröhre an der Decke. Als sie zwischen all den blauen Flecken und der verbrannten Haut genau an der gleichen Stelle wie bei Blondchen den Einstich einer Nadel entdeckte, versagten ihr die Beine den Dienst. Die junge Frau sank auf den Deckel des Toilettensitzes und spürte Panik aus der Brust hinauf in ihren Kopf steigen.

Als sie die Toilette verließ, hatte Regina einen Entschluss gefasst.


Marietta Krüger hatte sich erneut im Hotelfoyer hinter der letzten Ausgabe der Brigitte verschanzt. Die Kriminalbeamtin hatte es sich in den Kopf gesetzt, hinter die Fassade der Zölis zu blicken. Zum einen war es ihre berufliche Pflicht, dem einzigen Aufhänger im Mordfall an Christoph Sander nachzugehen, den sie im Moment hatten. Zum anderen stachelten sie Eifersucht und Neid an. Diese Frau, die genau so alt wie Marietta war, bekam ohne Anstrengung alles, was sie selbst auch gerne gehabt hätte.

Ein Räuspern ließ die Polizeibeamtin aus ihren Gedanken hochschrecken. Vor ihr stand Regina Zölis und sah ihr aus tief blutunterlaufenen Augen ins Gesicht: Kommen Sie bitte mit auf mein Zimmer, Frau Krüger. So heißen Sie doch? Ich muss Ihnen etwas zeigen.

Mittwoch, 4. Oktober 2006

Sommer auf Rügen (7)

Als sie aus dem Schlaf schreckte und die Augen aufriss, spürte sie rhythmische Hammerschläge gegen ihren Kopf wummern. Grelles Licht stach ihr in die Netzhaut und zwang die Augenlider wieder nach unten. In ihrem Mund klebte eine überdimensionale, pelzüberzogene Zunge am Gaumen, ihr ganzer Körper fühlte sich an, als sei sie als Gladiatorin in der Löwengrube aufgetreten. Gequält stöhnte sie auf, als sie den Oberkörper aufrichtete und das Hämmern in ihrem Kopf noch lauter und schmerzhafter wurde. Sie musste husten und aus dem Mundwinkel rann ihr eine scharfe Flüssigkeit, die nach Sperma schmeckte.
Das macht überhaupt nichts, sagte Regina zu sich selbst, während sie sich erhob, das kann jedem mal passieren. [*] Eine gute Portion Sarkasmus, so fand sie, half einem, mit fast allem klar zu kommen.

Gut zwei Stunden später hatte Regina Zölis so etwas wie eine Bestandsaufnahme zu Wege gebracht. Das Hotelbett hatte sich in ein Schlachtfeld verwandelt. Laken und Bezüge waren blutverschmiert und teilweise zerrissen. Aus einem Riss in der Matratze quoll Latexschaum. Überall um das Bett herum, auf Simsen, Tischchen Stühlen und auf dem Teppich waren Kerzenstummel und Wachslachen verteilt, es roch wie in einem Zoogehege.

Ihr Körper war ebenso verwüstet worden wie das Zimmer. Alle Glieder waren mit blauen Flecken übersäht, die Hand- und Fußgelenke angeschwollen, wo sie offenbar an die Bettpfosten gefesselt worden war. An Brüsten, Bauch, Oberschenkeln und Gesäß hatte Regina Schnittwunden davon getragen, nicht tief, eher wie symmetrische Ornamente, die brannten wie Höllenfeuer. An ein paar Stellen ihres Körpers fand sie Brandmale, die zweifellos durch das Ausdrücken brennender Zigaretten entstanden waren. All ihre Körperöffnungen waren missbraucht worden, Sperma und Kerzenwachstropfen über ihren ganzen Körper verteilt. Lediglich Kopf, Hals und ihr Dekolletee waren vollkommen unversehrt, sah man einmal von einer versengten Haarsträhne ab.

Nachdem sich die junge Frau gesäubert und verarztet hatte und sich daran machen wollte, das Zimmer zumindest notdürftig aufzuräumen, fand sie auf dem Sekretär einen Stapel Papier. Es waren Fotokopien ursprünglich handgeschriebener Seiten. Auf dem Deckblatt stand in einer Schrift, die Regina von Verrechnungsschecks kannte: In zehn Schritten zur eingeleiteten Wiedergeburt, von C. Steiner


Regina Zölis setzte sich und begann zu lesen. Natürlich verstand sie nicht einmal die Hälfte der wissenschafftlichen Abhandlung, auch wenn sie auf deutsch verfasst war. Aber eines war sogar ihr unmissverständlich klar: Constantin Steiner reklamierte für sich, ein Verfahren erfunden zu haben, mittels dessen man das eigene Bewusstsein mittels einer präparierten Blutinjektion an andere Personen weitergeben konnte. Dies habe der alte Steiner --so der Text-- im Selbstversuch nachgewiesen.
Auf der Rückseite des Deckblattes waren in einer anderen Handschrift mit Bleistift untereinander drei Namen vermerkt: C. Steiner, C. Sander, C. Sturm …

Wenn sich nicht entweder Regina oder dieser Sturm auf dem besten Wege befanden, dem Irrsinn zu verfallen, dann trug ihr jugendlicher Folterknecht tatsächlich einen Teil der Leben von Constantin Steiner und Christoph Sander in sich. Ein Schaudern durchzog den geschundenen Körper der jungen Frau. Einerseits, mit dem vernunftgesteuerten, alltagstauglichen Teil ihres Gehirns verwies sie diese unglaubwürdige Geschichte ins Reich des schizophrenen Wahnsinns; aber andererseits sagte ihr die Intuition, dass das alles angesichts des Erlebten durchaus wahr sein konnte.


Mitterweile war es fünf Uhr nachmittags: Regina beschloss, erst einmal etwas Leichtes essen zu gehen, um ihren flauen Magen zu besänftigen. Was in dieser verworrenen Angelegenheit zu tun sei, musste wohl überlegt werden. Sie zog Jeans und einen langärmeligen Pullover an, setzte ihre Sonnenbrille auf, um ihre blutunterlaufenen Augen zu verdecken, und ging nach unten in den Speisesaal.

Sie war früh dran für das Abendessen im Hotel und saß alleine vor der Speisekarte, als Blondchen, die kleine Tanja Winter, hereingelaufen kam und sich neben Regina Zölis setzte.
Guck mal!, Tanja sprach in dem wichtigtuerischen, von Selbstmitleid getragenen Tonfall kleiner Kinder, für die das eigene Unglück stets das Weltwichtigste war. Mich hat heut Nacht ein Tier gestochen! Das Mädchen streckte Regina ihr Ärmchen entgegen und zupfte ein buntes Kinderpflaster aus der Ellenbeuge. Genau dort wo dünne blaue Äderchen durch die helle Haut schimmerten, war ein dunkelroter Punkt zu sehen, der von einem bläulich-violetten Hof umgeben war.

Sonntag, 1. Oktober 2006

Sommer auf Rügen (6)

Natürlich war es vollkommen verrückt, auf das Angebot dieses Jungen einzugehen. Vernünftig wäre es gewesen, Carl Sturm in der Bar seinen Briefumschlag zurückzugeben und sich auf niemals Wiedersehen zu verabschieden. Aber Regina Zölis war schlichtweg zu neugierig. Sie wollte herausfinden, was es auf sich hatte mit den Beziehungen zwischen dem alten Steiner, dem ermordeten Sander und diesem so bestimmt auftretenden Sturm.

Also verstaute Fräulein Zölis den Liebeslohn im Zimmersafe, zwängte sich in das enge, zu kurze schwarze Kleidchen, an dessen Saum die Enden der Strumpfhalter hervorlugten, stieg in die hochhackigen Schuhe und legte ihre Kriegsbemalung auf. Am Tresen der Hotelbar wurde sie von Carl Sturm bereits mit einem Glas Champagner empfangen. Die Augen des jungen Mannes glänzten, als sie auf ihn zustöckelte. Auch ihr eigener Atem ging rascher: Einen so jungen Kunden hatte sie noch nie bedient.

Doch Sturm schien es gar nicht eilig zu haben, ins Bett zu kommen. Trotz seines unverhohlenen Interesses an Reginas Äußerem wirkte er erstaunlich beherrscht. Zunächst zeigte er sich beeindruckt von der Pianistin, die als Hintergrundmusik in der Bar Songs von George Gershwin zum Besten gab. Carl Sturm bedachte jedes der Stücke mit ausgiebigem Applaus und kommentierte die Interpretation der Musikerin, die ihn an die junge Masha Dimitrieva erinnere. Wer auch immer diese Masha sein mochte, dachte Regina Zölis, der Kerl ist doch viel zu jung für solche Beurteilungen. Was stimmt nicht mit ihm?
Nach dem Begrüßungsglas schenkte Sturm noch einmal nach und begann nun an Regina gewandt leise zu sprechen, so dass sie sich anstrengen musste, ihn zu verstehen: Constantin Steiner ist ein brillanter Kopf. Er hat genau gewusst, was er tat, als er seine Entdeckung für sich selbst nutzte, statt sie in der Öffentlichkeit kaputt reden zu lassen, in der vagen Hoffnung, eines Tages Ruhm und Ehre zu ernten. Nur einen Fehler hat er begangen. Er hat zu wenige seiner Überzeugungen an seinen Erben weitergegeben. Das wäre beinahe schief gegangen. Aber zum Glück hat er es mit meiner Hilfe geschafft, die Angelegenheit noch in letzter Minute gerade zu biegen. Jetzt ist er am Ziel seiner Wünsche angelangt.
Regina Zölis wunderte sich ein wenig, dass Sturm von Steiner in der Gegenwartsform sprach. Er wusste doch, dass der alte Mann tot war. Aber sie schaffte es nicht, nachzufragen. Ihr Mund war trocken, als hätte sie den ganzen Tag nichts getrunken. Mit einem Zug leerte sie ihr zweites Glas, doch statt die erhoffte Erleichterung zu spüren, begann sich die Bar vor ihren Augen zu drehen.

Wie durch einen zähen, watteartigen Nebel watete sie durch das Foyer, den Arm über die Schulter Carl Sturms gelegt. Er führte sie in den Aufzug und oben in ihr Zimmer, wo er Regina sanft auf das Bett legte. Ihre Augenlider waren schwer wie Blei und sie konnte nicht sehen, warum es ihr nicht gelang, sich auf die Seite zu drehen und die Knie nach oben an den Bauch zu ziehen, um zu schlafen. Sie lag blind, mit schwindendem Bewusstsein rücklings auf dem Bett, Arme und Beine wie auf ein Andreaskreuz genagelt von sich gestreckt. In einer letzten Woge der Anstrengung spannte Regina Zölis ihren Körper, als ihr enges Kleid von der Brust bis zum Becken aufzuplatzen schien und kühle Luft über ihren glühenden Körper strich. Danach verlor sie das Bewusstsein.


In der Hotellobby saß Marietta Krüger versunken in einem tiefen Ledersofa. Als dieser junge, gut aussehende Kerl die sturzbesoffene Frau Zölis an ihr vorbeigeschleift hatte, senkte die Polizistin die Zeitschrift, in der sie geblättert hatte, und sah den beiden nach. Sie hatte die Zölis anders eingeschätzt, viel beherrschter. Und doch ließ sich diese Frau einfach zulaufen und abschleppen. Vielleicht aber vertrug sie einfach keinen Alkohol? In jedem Fall war es sinnlos, weiter hier herumzusitzen und auf eine Gelegenheit zu warten, die Zeugin, die sie jetzt fast zwei Stunden lang beobachtet hatte, unter vier Augen zu sprechen. Kommissarin Krüger legte die Zeitschrift zur Seite und verließ das Hotel. Bevor sie in den Wagen stieg, sah sie noch einmal hinauf zum Fenster der Zölis. In diesem Moment wurde dort oben das Licht gelöscht, und ein paar Sekunden lang war das Flackern von Kerzenlicht hinter der Fensterscheibe zu sehen, bevor die Vorhänge zugezogen wurden.
Marietta seufzte. Sie selbst hätte sich gewiss nicht derartig besoffen, wäre sie in Begleitung des jungen Mannes gewesen. Andererseits war sie sich der traurigen Tatsache bewusst, dass sie im Kleid der Zölis und mit derart gewagtem Make-Up einfach nur lächerlich ausgesehen hätte.

In dem Moment als die Polizeibeamtin erneut seufzte und den Motor anließ, schlitzte Carl Sturm oben im Zimmer mit einem einzigen Skalpellschnitt das Kleid von Regina Zölis von oben bis unten auf. Er ärgerte sich, als an zwei Stellen zwischen den Brüsten und unterhalb des Nabels ein paar Blutstropfen aus der hellen Haut der Hure sprangen. Er musste behutsamer zu Werk gehen.

Donnerstag, 28. September 2006

Sommer auf Rügen (5)

Vollkommen perplex saß Regina Zölis im Strandkorb. Der junge Mann, der sie im Hotel als Kellner verkleidet auf Constantin Steiner angesprochen hatte, stand ein paar Meter entfernt mit dem Rücken zu ihr im feuchten Sand an der Wasserlinie. Im Mondlicht sah sie die Rauchwolke seiner Zigarette. Regina fröstelte, nicht wegen der Temperatur, sondern wegen der unglaublichen Dinge, die der Kerl ihr aufgetischt hatte, bevor er sie im Strandkorb alleine zurückließ.

Sie hatten sich auf das Treffen in der nächtlichen Abgeschiedenheit des Meeresstrandes geeinigt, nachdem er ihr bedeutet hatte, dass sein Anliegen sicher einige Zeit in Anspruch nehmen würde und besser unter vier Augen besprochen werden solle. Angst hatte Regina Zölis vor der Verabredung nicht gehabt. Sie konnte auf sich aufpassen. Jetzt aber kroch ihr die Furcht doch mit eiskalten Fingern den Rücken hinauf.

Der junge Mann hatte sich als Carl Sturm vorgestellt und ihr innerhalb einer knappen Stunde klar gemacht, dass er nicht nur ihren verstorbenen Kunden, Constantin Steiner, besser kannte als sie selbst, sondern auch über Reginas Beziehung zu Steiner, sowie über ihr gesamtes professionelles Leben Bescheid wusste, als zählte er selbst seit Jahren zu ihren Stammkunden.
Gerade als die junge Frau zu der Ansicht gelangt war, dieser Sturm müsse Polizist sein, vielleicht von der Sitte oder den Finanzbehörden, hatte er plötzlich das Thema gewechselt: Constantin Steiner hat dich immer als seine Himmelskönigin bezeichnet. Mit Respekt hat er dich behandelt, nie als die Hure, die du in Wirklichkeit bist. Insgeheim aber hat er immer davon geträumt, dich zu ficken. Und deshalb bin ich jetzt hier.

Woher wissen Sie das alles? Wer sind sie?, stammelte Regina verunsichert. Dieser Carl Sturm bereitete ihr Unbehagen. Trotz seiner offensichtlichen Jugend, er konnte nicht viel älter als achtzehn oder neunzehn sein, verfügte er über die Erfahrung und das Auftreten eines erwachsenen Mannes, die sie einschüchterten wie ein kleines Mädchen.
Sagen wir einmal: In meinen Adern fließt indirekt das Blut Constantin Steiners, antwortete Carl Sturm. Ich bin so etwas Ähnliches wie Constantins Testamentsvollstrecker. In der Schublade deines Nachttischchens im Hotel liegt ein Kuvert mit eintausend Euro in bar. Das sollte selbst bei deinen Tarifen ausreichend für eine Nacht sein. Ich erwarte dich morgen Abend um sieben an der Hotelbar. Das kleine Schwarze, Strümpfe und deine High-Heels reichen völlig aus.
Mit diesen Worten war der junge Mann aufgestanden und auf das Meer zugegangen. Jetzt warf er den Zigarettenstummel in die Brandung und marschierte am Strand entlang davon, ohne noch einmal zu Regina zurückzublicken.


Langsam, mit zögernden Schritten ging die junge Frau zurück zum Hotel. Indirekt das Blut Steiners?, rätselte sie. Vielleicht war er ein Enkel des alten Mannes? Aber welcher Enkel weiß schon im letzten pikanten Detail, welches Verhältnis der Großvater zu einer Prostituierten hatte?
Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Sturm und Steiner konnte man vielleicht wirklich konstatieren. Aber andererseits hatte dieses Mordopfer, Sander hieß er wohl, eine viel deutlichere Ähnlichkeit mit Constantin Steiner gehabt. Konnte das möglich sein? Großvater, Vater, Sohn? Steiner, Sander, Sturm? Alle drei hatten Vornamen, die mit dem Buchstaben C begannen? Waren das womöglich angenommene Decknamen? Aber wozu? Wurde sie einfach langsam verrückt und merkte es nicht?

In ihrem Zimmer öffnete Regina Zölis die Nachttischschublade. Darin lag ein Hotelkuvert, in dem zwei Fünfhunderter steckten.

Montag, 25. September 2006

Sommer auf Rügen (4)

Diese merkwürdige Ähnlichkeit zwischen dem alten Steiner und Professor Sander brachte Regina Zölis ins Grübeln. Sie würde die nächsten Tage ohne Plan auf Rügen verbringen, weil das Hotel ja nun schon bezahlt war und der Kommissar sie darum gebeten hatte, sich zur Verfügung zu halten. Fräulein Zölis hielt es für die beste Strategie, die Polizei nach Kräften zu unterstützen, um im Gegenzug vielleicht Schonung heraushandeln zu können, wenn herauskäme, dass sie mit ihrer anrüchigen Tätigkeit den Staat um Steuereinnahmen brachte.

Also versuchte Sie, die Tage zu genießen, soweit das mit den Erinnerungen an den Ermordeten an ihrem Tisch möglich war. Gleichzeitig versuchte Regina sich ihren eigenen Reim darauf zu machen, was ihr ehemaliger Freier mit dem toten Professor zu tun haben konnte. Offensichtlich hatte es etwas mit dem Stichwort Reinkarnation zu tun, sonst hätte der Inspektor nicht danach gefragt.


Bist du traurig? Die Worte rissen Regina Zölis aus ihren grüblerischen Gedanken. Vor ihr stand ein Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt, strohblond und sah sie mit besorgter Miene an. Du siehst aus, als weinst du gleich. War das dein Papa, den sie totgeschossen haben?
Die junge Frau musste lächeln. Nein, ich bin nicht traurig. Und das war auch nicht mein Papa. Ich hab den Mann gar nicht gekannt.
Die Miene des Mädchens hellte sich auf, sie drehte sich um und lief davon, zurück an den Tisch von Mama und Papa. Tschüss!

Mit Blondchen, so hatte sie die Kleine für sich genannt, freundete sich Regina Zölis in den folgenden Tagen an. Das Mädchen war ein bisschen einsam, weil keine anderen Kinder in passendem Alter im Hotel waren. Deshalb suchte es Kontakt bei der jungen Frau, die sie am ehesten an ihr Au-Pair zu Hause in der großen Stadt erinnerte. Sie hieß Tanja Winter und kam aus Wiesbaden. Regina und Tanja verbrachten nun täglich ein paar Stunden gemeinsam mit Spaziergängen, Vorlesen oder Kartenspielen.
Als die Eltern die Fremde zunächst vor der Zudringlichkeit ihrer Tochter befreien wollten, winkte Regina ab. Sie sei froh, ab und zu aus ihren Gedanken gerissen zu werden. Wenn ihr Tanja zu anstrengend würde, werde sie sich schon melden.


Weniger Probleme als erwartet bereitete Regina Zölis das Gespräch mit Inspektor Sonderburg. Sie hatte beschlossen, zunächst über den Hintergrund ihrer Reise zu lügen, um die Polizei nicht direkt mit der Nase in ihren Dreckhaufen zu schubsen. Erst wenn Andeutungen über ihr Scheinleben fallen würden, wollte sie mit der ganzen Wahrheit herausrücken.
Also konnte sie auch nichts über die Ählichkeit des Opfers mit ihrem Auftraggeber verraten. Sie beharrte auf der Version, Sander am Frühstücksbuffet kennengelernt zu haben, versuchte jedoch alle Fragen des Beamten, die sich auf den Tathergang bezogen, so detailliert wie möglich zu beantworten.

Tatsächlich konnte sie nun ohne jeden Zweifel bestätigen, dass jemand hinter dem Stuhl Sanders vorübergegangen war, als dieser mitten im Satz abbrach und in sein Rührei kippte. Aber sie habe nicht auf den Passanten geachtet, weil ihre Konzentration vollständig durch den Zusammenbruch ihres Tischnachbarn beansprucht worden sei.

Was wissen Sie über die wissenschaftliche Arbeit des Opfers, Frau Zölis? Sonderburg versuchte, das Thema noch einmal unvermittelt von vorne aufzurollen. Was studieren Sie selbst denn eigentlich?
Tourismus. Ich habe mit den Naturwissenschaften nicht viel am Hut, Herr Inspektor. Über den ganzen Reinkarnationskram weiß ich nichts, und das Thema interessiert mich auch nicht sonderlich. Esoterische Phänomene oder Theorien sind nicht unbedingt meine Welt. Ich mag es handfest.

Bei allem anfänglichen Misstrauen war Mathias Sonderburg nun doch geneigt, der Frau ihre Geschichte abzukaufen. Hauptgrund dafür war vielleicht die Vermengung beruflichen und privaten Interesses Sonderburgs an der Person der Regina Zölis. Ihre Bodenständigkeit und Ablehnung des ganzen Humbugs ließ die junge Frau in den Augen des Beamten noch attraktiver erscheinen, als sie es rein körperlich bereits war.
Er würde die Krüger nochmal auf Zölis ansetzen, nur um sicher zu gehen. Den Täter würde er selbst inzwischen in der Kollegenschar des Getöteten suchen.


Als sich der Kommisar von ihr verabschiedet hatte, sah ihm Regina Zölis noch lange nach. Was hatte es mit dieser verdammten Reinkarnation auf sich? Sie hatte Sonderburg nicht belogen: Sie brachte weder religiösen, noch ethischen oder weltanschaulichen Fragen echtes Interesse entgegen. Jetzt aber würde sie sich wohl oder übel einmal damit befassen müssen.

Was hat Ihnen Herr Steiner eigentlich gesagt? Wen sollten Sie hier treffen?

Wie von der Tarantel gebissen fuhr Regina Zölis herum. Hinter ihr stand ein junger Kellner, der dabei war, ihren Tisch abzuräumen. Ganz offensichtlich kam die völlig unerwartete Frage aus seinem Mund.

Freitag, 22. September 2006

Sommer auf Rügen (3)

Inspektor Sonderburg war ernüchtert. Der Mord an diesem Christof Sander erwies sich als harter Brocken. Tatsache war, dass der Wissenschaftler Prof. Dr. Ch. Sander in seinem fünfzundvierzigsten Lebensjahr an einem Terrassentisch eines Hotels auf Rügen durch einen Pistolenschuss in den Rücken getötet worden war. Das Opfer hinterließ keine Verwandten, er war unverheiratet, kinderlos, hatte keine Geschwister, Counsins oder Cousinen, seine Eltern waren bereits vor Jahren verstorben. Auch persönliche Freundschaften schien Sander nicht gepflegt zu haben. Die einzigen Menschen, die den Leichnam am Montag nach der Tat identifizieren konnten, waren die ehemaligen Arbeitskollegen Sanders. Ehemalig deshalb, weil es ebenfalls den Tatsachen entsprach, dass der Forscher drei Monate zuvor aus dem Dienst an der Universität ausgeschieden war. Grund dafür waren seine in hohem Maß umstrittenen Thesen zum wissenschaftlichen Beleg der menschlichen Wiedergeburt gewesen.

Kopfzerbrechen bereiteten Mathias Sonderburg vor allem die Schilderungen zum Tathergang, oder besser gesagt: die fehlenden Zeugenberichte zur Tat. Das Mordopfer war aus nächster Nähe durch einen Pistolenschuss hingerichtet worden. Keiner der anwesenden vierundzwanzig Zeugen hatte jedoch einen Schuss gehört. Dieser Umstand konnte noch durch die Verwendung eines Schalldämpfers erklärt werden. Allerdings schien auch niemand den Mörder gesehen zu haben.

Wiederholte, langwierige Befragungen hatten schließlich ergeben, dass möglicherweise kurz vor dem Todesschuss ein Mann über die Terrasse in das Hotelgebäude gegangen war. Eine einigermaßen übereinstimmende Personbeschreibung war jedoch nicht zu erhalten gewesen. Die Mehrzahl der Zeugen glaubte sich daran zu erinnern, dass der Mann möglicherweise jung gewesen sei, um die zwanzig vielleicht? Andere wiederum sprachen von einem etwa Sechzigjährigen. Über Kleidung und Haarfarbe gab es so viele verschiedene Aussagen, dass Sonderburg keine einzige davon zu Protokoll nehmen wollte. Schnell klären ließ sich lediglich der Umstand, dass es sich bei dem Verdächtigen nicht um einen Hotelgast gehandelt hatte.

Offenbar hatte ein Phantom Christof Sander erschossen und war danach spurlos verschwunden. Sonderburg war nicht nur ernüchtert, er war vielmehr verzweifelt.


Was ist das eigentlich für eine Geschichte mit der ›eingeleiteten Wiedergeburt‹?, wandte er sich an Marietta Krüger, um nach einem altenativen Ansatzpunkt zu haschen. Gibt es da irgendetwas, was uns zu einem Mordmotiv führen könnte? Du hast doch Ahnung von Sanders Theorien, lass mal was raus!

Marietta zog die Braue nach oben und begann zu dozieren: Ich mach es kurz und damit vielleicht ein wenig unscharf, Mathias. Das Kernstück der Thesen von Professor Sander besteht in der Aussage, dass er es für möglich hält, seine eigene Persönlichkeit in andere Menschen zu verpflanzen. Er ist davon überzeugt, dass man mit dem eigenen Blut, einer geeigneten Reagenzsubstanz und den richtigen chemischen Prozessbeschleunigern einen Wirkstoff herstellen kann, der --einer anderen Person injiziert-- die eigenen Gene in einer Art und Weise überträgt, dass die ursprüngliche Erbinformation des Empfängers ausgelöscht und ersetzt wird durch die des Spenders. Dieser Prozess funktioniere desto besser, je jünger der Empfänger sei, weil bei jungen Menschen Zelltod und -teilung rascher und umfassender erfolgten.
Hm, so eine Art nachträgliches Klonen also?, warf Sonderburg ein. Dieses ganze Forschungsgelabere war ihm höchst suspekt. Lauter Quacksalber waren das, Spinner. Aber das musste ja nicht bedeuten, dass nicht der Mörder in den Kreisen der Wissenschaftler zu finden sein konnte.

Ja, nachträgliches Klonen könnte man das nennen, fuhr die Krüger fort. Aber das wäre nur die Hälfte der gesamten These. Sander glaubte darüber hinaus, einmal nachweisen zu können, dass sich mit der Erbinformation über den Blutweg auch die gesamte Erfahrung und das Wissen des Spenders auf den Empfänger übertragen ließ. Das würde bedeuten, dass du deine kriminalistischen Fähigkeiten, deinen gesamten Erfahrungsschatz an einen anderen weitergeben könntest.
Ewiges Leben durch Reinkarnation in immer wieder neuen Leibern? Mathias Sonderburg lächelte versonnen. Wenn seine Ex-Frau hier wäre, würde ihr schon beim bloßen Zuhören einer abgehen. Allein schon aus Trotz fügte er deshalb hinzu: So einen gigantischen Schwachsinn habe ich ja noch nie gehört!

Ob das ewiges Leben wäre, ist die Frage, die am schwierigsten zu beantworten ist. Mariettas Augenbraue kletterte immer höher die Stirn hinauf. Die Kernfrage ist, ob mit deiner Erbinformation und deinem Wissen auch deine Seele weitergegeben würde. Ich weiß nicht, wie ich das plastisch machen soll. Würde das ein zweites Du sein, das da geschaffen würde. Wie würdet ihr beide miteinander auskommen? Würde das neue Du unter umständen versuchen, dir Schaden zuzufügen? Oder wäret ihr sozusagen eine Person in zwei Körpern, unfähig einander Böses zu wollen? Kann der Selbsterhaltungstrieb auf zwei Individuen aufgeteilt werden? Fühltest du dich als eine Entität in zwei Personalausprägungen?

Inspektor Sonderburg schluckte. Eine derartig komplexe und verwirrende Geschichte war ihm noch nie untergekommen. Dass das mal von vornherein klar ist, Marietta, polterte er. Ich bin hundertprozentig überzeugt davon, dass diese Wiedergeburtsidee kompletter Nonsense ist, reiner und gequirlter Irrsinn. Aber ich sehe eine recht gute Chance darin, den Mörder in den erweiterten Kreisen der Kollegen zu suchen, die mit Sander im Clinch lagen.
Oder in sonstigen Gruppierungen, die ein Interesse daran haben könnten, Sanders Entdeckung zu verschleiern. Ergänzte Marietta Krüger mit bedeutungsvollem Blick. Zum Beispiel die Kirchen.


Heiliger Strohsack! Die kleine Krüger hatte Recht. Sonderburg erkannte jetzt, welches Polarisierungspotenzial die sanderschen Thesen hatten. Auch wenn der Mann keine persönlichen Feinde hatte. Den Tod hätten ihm vielleicht gar die halbe Menschheit an den Hals gewünscht, wenn seine Forschungen erst einmal für ein breites Publikum publik geworden wären.

Dabei fiel ihm erneut Regina Zölis ein. Die saubere Dame, die mit Sander im Moment seines Todes an einem Tisch gesessen war, wusste etwas über diese Reinkarnationsgeschichten. Bei ihr würde Sonderburg erneut den Hebel ansetzen. Und zwar kräftig.

Dienstag, 19. September 2006

Sommer auf Rügen (2)

Regina Zölis warf sich wütend auf das Hotelbett und trommelte mit ihren Fäusten auf das Kopfkissen ein. Sie war einfach zu bescheuert! Wieso hatte sie nicht damals, vor einem Monat einfach das Geld eingeschoben und sich aus der Angelegenheit verabschiedet? Aber nein: sie war einfach zu neugierig gewesen und musste ihr Näschen in Dinge stecken, die sie nichts angingen und auf die sie keinen Einfluss hatte.

Natürlich war ihr nicht entgangen, dass ihr der Kommissar nicht abgenommen hatte, dass sie den Toten erst am Tag des Mordes kennengelernt habe. Und mit seiner Frage nach der Reinkarnation hatte er sie völlig aus der Bahn geworfen. Woher konnte der Inspektor wissen, wie erschrocken sie war, als sie diesen Sander auf der Hotelterrasse getroffen hatte? Er hatte sie doch nicht schon vorher beobachtet?

Jedenfalls würde nun alles herauskommen und sie würde ihr sorgsam geplantes, komfortables Leben ändern müssen. Bei diesen Gedanken stieg der jungen Frau erneut eine blutrote Wolke des Zorns auf sich selbst ins Gehirn. Sie war eine dumme Ziege!


Regina Zölis war fünfundzwanzig Jahre alt, schlank, aber durchaus mit einer weiblich gerundeten Figur gesegnet. Ihr Vater hatte sie immer ein hübsches Ding genannt, und sie war auch noch stolz darauf gewesen; jedenfalls bis zu dem Tag, an dem ihr Vater nachts betrunken in ihr Zimmer gekommen war. Aber sie war ja danach sofort ausgezogen, siebzehn Jahre alt war sie damals gewesen, und hatte sich ihr Leben selbst eingerichtet. Perfekt eingerichtet, wie sie es sich immer wieder selbst bestätigen zu müssen glaubte.

Fräulein Zölis, auf das Fräulein legte sie selbst großen Wert, lebte alleine in einer geräumigen Eigentumswohnung in einer bevorzugten Wohngegend der Stadt. Sie hatte einen überschaubaren Freundeskreis, aus dem nur eine einzige Person das kleine, schmutzige Geheimnis Reginas kannte. Genau genommen teilten Regina Zölis und ihre Freundin Mona Isenberg das gleiche Geheimnis. Beide Frauen verdienten nämlich ihr Geld durch Prostitution.

Als sie sich kennengelernt hatten, wunderte sich Regina über die Leichtigkeit, mit der die jüngere Mona durchs Leben ging. Schöne Wohnung, neues Auto, immer schick angezogen, ob dem Mädchen ihre Eltern diesen Lebensstandard finanzierten?
Als sie die Freundin darauf ansprach, sah ihr Mona ins Gesicht und antwortete nach einer Schweigepause: Das kannst du auch haben, Gina. Du brauchst nur ab und zu nett zu älteren Männern zu sein.

So war es dann auch gekommen. Regina Zölis ließ sich von ihrer Freundin Mona die ersten Freier zuführen, allesamt vermögende Männer über fünfzig, für die Mona selbst einfach keine Zeit mehr hatte. Im Grunde, so argumentierte Regina vor ihrem eigenen Gewissen, war sie gar keine richtige Prostitutierte. Die meisten Kunden waren doch schon zufrieden, wenn sie von einer jungen, hübschen Frau begleitet wurden, die ihre Tochter hätte sein können. Wenn sie vor ihren Freunden oder Geschäftspartnern ein bisschen angeben konnten. Wenn sie die eigene Eitelkeit befriedigen durften, indem sie sich selbst vormachten, die gleichen tollen Hechte geblieben zu sein wie zwanzig oder dreißig Jahre zuvor.

Die ihr zugedachte Rolle bei solch öffentlichen Auftritten spielte Regina Zölis am besten und zur größten Zufriedenheit ihrer Kundschaft fast immer in einem etwas zu kurzen und etwas zu knappen, schwarzen Kleid, schwarzen Nylonstrümpfen mit Naht, sowie hochhackigen und ebenfalls schwarzen Stöckelschuhen. Ihre Auftraggeber und deren Begleitschaft verzehrten sich lüstern nach dem hellen Mädchenfleisch, das kontrastreich aus den engen, mehr betonenden als verhüllenden Kleidungsstücken drängte.
Übrigens war zu vielen Gelegenheiten mehr nur als einer ihrer Freier anwesend. Da Regina Zölis neue Kunden ausschließlich über Mund-zu-Mund-Propaganda akquirierte, kannten sich viele der Kunden untereinander. Und so bezahlte oft einer die Frau, während zwei oder drei andere ihrer direkten Bekanntschaften als mehr oder weniger stille Nutznießer dabei saßen.

Die junge Frau stellte fest, dass das Drängen der männlichen Kundschaft um so stärker wurde, je weniger sie sprach. Blondes Dummchen oder verheißungsvolle, stille Schönheit? Sie wusste den Grund nicht zu benennen. Ebenfalls dem allgemeinen Begehren förderlich waren jedenfalls Ergänzungen in Form einer schwarzer Hornbrille und eines Stenoblocks, auf dem sie Notizen machte, als protokolliere sie die Gespräche der anwesenden Herren. Dies schien dem Anspruch der Herren an Dominanz oder Kontrolle zu entsprechen.

Für solche Privilegien bezahlten Reginas Kunden Preise, die ihr den Lebensstil ermöglichten, den sie pflegte. Für das Finanzamt war Regina Zölis Studentin, für ihre Freunde mimte sie eine Eventmanagerin, die ihrem Beruf eben recht oft in den Abendstunden oder über mehrere Tage und Nächte hinweg nachgehen musste.

Sexuelle Gefälligkeiten in Form von Beischlaf, Hand- und Mundarbeit, oder gar außergewöhnlicherer Formen geschlechtlicher Dienstleistungen forderten ihre Freier eher selten ein. Verbalerotiker waren gewiss alle ihre Kunden. Wann immer Regina tatsächlich alleine mit ihnen war, geilten sie sich an Geschichten über sexuelle Begegnungen mit ehemaligen Geliebten oder Ehefrauen auf, die zumindest arg übertrieben waren, wenn sie nicht gar vollständig der Fantasie der Erzähler entsprangen. Reginas Aufgabe bestand dann oftmals darin, einfach nur in einem Hotelzimmer auf und ab zu gehen, mit laut auf dem Fußboden klackernden Absätzen, manchmal im schwarzen Kleid, manchmal aber auch nackt bis auf Strümpfe und Schuhe. Die in ihren eigenen Erzählungen aufgehenden Freier gaben sich meist damit zufrieden, ihre Beute zu begucken und zu begeifern, schlimmstenfalls einmal ihr jugendlich festes Fleisch zu begrapschen und zu kneifen.

Falls es doch einmal zu sexuellen Handlungen kam, dann erledigte die junge Frau solche rein mechanisch, ohne groß Aufhebens darum zu machen. Ganz so nah wollte sie das auch gar nicht an ihr Inneres herankommen lassen. Sie war keine Hure, sie war ein Callgirl. Diesen Begriff hielt Regina Zölis für akzeptabel, errötete aber stets, wenn in ihrem Freundeskreis Zoten gerissen wurden und von Nutten, Huren, Votzen und Dirnen die Rede war. Dass ihre roten Wangen bei solchen Gesprächsthemen eine Folge von Ärger waren, ahnten die Freunde nicht. Sie hielten die schöne Regina für prüde und witzelten angesichts des fehlenden Freundes gerne über die ihr bevorstehende Zukunft als alte Jungfer. Am lautesten von allen lachte in solchen Fällen stets die gute Mona Isenberg.


Alles in allem mochte Regina Zölis ihr Leben sehr und sie ärgerte sich ungeheur, dass die Kriminalpolizei in der Folge ihrer unglücklichen Beteiligung an einem Mordfall nun wohl so lange in ihren Geheimnissen herumstochern würde, bis alles publik wurde und sie, Regina, alle Freunde, Kunden und viel Geld verlieren würde.

Das Verhängnis hatte seinen Lauf vor einem Monat genommen. Sie war vom Büro des Kreiskrankenhauses angerufen worden. Ihr Onkel, ein gewisser Herr Steiner, liege im Sterben und bitte um ihren letzten Besuch. Natürlich hatte Regina gar keinen Onkel, mit dem sie noch Kontakt gehabt hätte, erst recht keinen Onkel mit dem Namen Steiner. Aber sie kannte sehr wohl einen Constantin Steiner. Der war ihr ältester Kunde, inzwischen wohl über achtzig Jahre alt.
Ein bisschen sentimental willigte die junge Frau ein, Herrn Steiner besuchen zu kommen. Sie mochte den Alten ganz gerne, nicht zuletzt deshalb, weil er in all den Jahren noch kein einziges Mal sexuelle Dienste eingefordert hatte. Sie würde ihm den erbetenen Gefallen tun.

Im Krankenhaus war sie erschrocken über den körperlichen Verfall von Constantin Steiner gewesen. Er hatte in den wenigen Wochen, in denen sie sich nicht gesehen hatten, mindestens die Hälfte seines früheren Körpergewichts verloren und sah sie aus übergroßen, tief in den Höhlen liegenden Augen an. Sie hielt seine Hand, als er mit leiser Stimme zu sprechen begann: Regina Zölis, meine Himmelskönigin. Obwohl mir das manchmal sehr, sehr schwer gefallen ist, habe ich dich in den vergangenen fünf Jahren immer als die Tochter behandelt, die ich nie hatte. Deshalb sollst du zwei Dinge von mir als Vermächtnis erhalten. Zum einen ist das ein bisschen Geld. Der Alte grub mit zittrigen Fingern nach einem Umschlag unter seinem Kopfkissen. Zum zweiten, liebe Regina, bitte ich dich darum, das Bahnticket nach Rügen zu verwenden, das du im Kuvert finden wirst. Dort ist ein Hotelzimmer für dich gebucht, Datum und Anreisedetails findest du ebenfalls im Umschlag. Im Hotel wirst du dich mit einem Mann treffen. Er wird dich erkennen und ansprechen. Tu mir diesen letzten Gefallen, Himmelskönigin.


Selbstverständlich wäre es vernünftig gewesen, das Gespräch zu vergessen, nachdem Constantin Steiner drei Tage nach Reginas Besuch gestorben war. Sie hätte die zwanzigtausend Euro auf ihr Konto einzahlen und den Rest der steinerschen Erbschaft dem Altpapier zuführen sollen. Aber sie war neugierig gewesen. Zu neugierig. – Ein Zimmer in einem Strandhotel auf Rügen, gebucht für zwei Wochen? Warum nicht? Ein fremder Mann, den sie dort treffen sollte? Vielleicht ein Sohn oder sonstiger Verwandter des Verstorbenen?

Sie würde das herausfinden, dachte sich Regina Zölis und hatte sich zwei Tage zuvor, am Donnerstag, auf den Weg gemacht. Den ganzen Freitag über hatte sie auf den angekündigten Fremden gewartet. In jedem männlichen Wesen hatte sie den Kontaktmann vermutet, hatte dem einen oder anderen viel zu lange ins Gesicht gestarrt, so dass sie in der Tat angesprochen wurde. Die Beweggründe dieser Männer wurden ihr jedoch jedes Mal nach wenigen Minuten klar. Am Samstagmorgen hatte sie schließlich ein Mann auf ihrem Weg zum Frühstück auf der Terrasse angesprochen.

Als sie ihn sah, wusste sie sofort, dass er der Gesuchte war. Er war Constantin Steiner wie aus dem Gesicht geschnitten, wenn auch nur höchstens halb so alt wie ihr dahin geschiedener Freier.

Samstag, 16. September 2006

Sommer auf Rügen (1)

Glauben Sie an Reinkarnation?, fragte Inspektor Sonderburg die verstört wirkende junge Frau auf der ansonsten nun menschenleeren Hotelterrasse. [*] Über dem Tischchen ein paar Schritte rechts neben der Frau flatterte eine aufgeregte Möwe, landete immer wieder kurzzeitig mit den schwimmhäutigen Füßen auf den Tellern und Platten und pickte Leckerbissen aus den Resten eines in der Sonne längst vertrockneten Frühstücks.

Mathias Sonderburg hatte in den vergangenen gut zwanzig Jahren bei der Mordkommision gelernt, Zeugen und Tatverdächtige durch unerwartete Bemerkungen oder Fragen aus der Reserve zu locken. Dies war eine weitere Gelegenheit, bei der er sein Glück versuchte.


Als er vor zehn Stunden von der Zentrale alamiert worden und kurz darauf im Hotel am Strand angekommen war, waren fünf Streifenbesatzungen der Kollegen vom Einsatz dabei, Angestellte und Gäste des Hotels zu beruhigen und Personalien aufzunehmen. In der Gegenwart von vierundzwanzig Augenzeugen war ein Mann mittleren Alters am Frühstückstisch in sich zusammengesunken, das Gesicht in einem Berg Rührei vor sich begrabend. Auf dem Rücken seines hellen Jackets hatte sich innerhalb von Sekunden ein Blutfleck ausgebreitet. Der herbeigerufene Notarzt hatte Tod durch Herzschuss in den Rücken festgestellt.

Als Sonderburg beinahe zeitgleich mit seiner Kollegin Marietta Krüger am Tatort eintraf, wurde die Leiche gerade von der Spurensicherung untersucht. Schon eine Identität?, hatte er routinemäßig gefragt, ohne allzugroße Hoffnung auf eine Bestätigung. Aber zu seiner Überraschung kam sofort die Antwort von Marietta: Christof Sander. Das hier ist ohne jeden Zweifel Professor Doktor Christof Sander.

Stirnrunzelnd warf Sonderburg der jungen Kollegin eine schrägen Blick zu. Aber Marietta hatte rasch aus ihrem Rucksack ein Taschenbuch gezogen und Sonderburg das Foto auf der Rückseite des Covers gezeigt. Tatsächlich, abgesehen von den Rühreiresten waren das Gesicht der Leiche und das des abgebildeten Buchautoren vollkommen identisch. Der Kriminalinspektor wendete das eselsohrige, schwer mitgenommene Taschenbuch in seinen Händen und las mit halblauter Stimme den Titel ab:

Ten Theses on Triggered Reincarnation - Zehn Thesen zur eingeleiteten Wiedergeburt


Ungläubig starrte Sonderburg seine Kollegin an. Was zum Teufel hatte die kleine Krüger mit diesem Reinkarnations-Zauber am Hut? Er hatte sie immer für eine vernunftbetonte, sachlich denkende und argumentierende Frau gehalten. Und doch stellte sich jetzt heraus, dass sie im Privatleben ganz anders war. Frauen mit esoterischen Ticks gingen Sonderburg auf die Nerven, seit er sich vor Jahren von seiner damaligen Ehefrau getrennt hatte. Die hatte ihn schlicht zermürbt mit ihrem ewigen Gequatsche über Buddhismus, die Unantastbarkeit tierischen Lebens, gutem und schlechtem Karma, Feng Shui und einer Menge anderen nicht nachweisbaren Blödsinns. Zuletzt hatte sie ihm dann erklärt, dass von den existierenden 4.300 Säugetierarten gerade mal 215 monogam seien und dass sie neben ihm noch einen anderen Mann hätte. Da hatte Sonderburg seine Frau aus dem Haus geworfen und war hinterher erleichtert, als die Nervensäge endlich aus seinem Leben verschwunden war.

Aber das gehörte nicht hierher, und der Inspektor schüttelte die Erinnerung mit einer Handbewegung ab, als hätten sich Spinnweben um seinen Kopf gelegt.

Marietta schien die Gedanken ihres Kollegen erraten zu haben, denn sie zog die linke Augenbraue nach oben, so wie sie es immer zu tun pflegte, bevor sie Erkenntnisse beisteuerte, die sie für wichtig hielt und auf die sie stolz war:
Das mag nach Voodoo klingen, ich weiß. Und zugegeben, Professor Sander hat nach der Veröffentlichung dieser Studie seinen Lehrstuhl an der Uni verloren. Aber glaub mir, Mathias, was er schreibt, hat Hand und Fuß. Er ist kein Spinner. Ich würde das sonst nicht lesen, das weißt du.

Wie sich später herausstellen sollte, war der Tote tatsächlich Christof Sander. Und er hatte bis kurz vor seiner Ermordung mit einer Frau namens Regina Zölis auf der Terrasse des Hotels in unmittelbarer Nachbarschaft weiterer dreiundzwanzig Personen gefrühstückt. Plötzlich sei sein Blick starr geworden, so berichtete Frau Zölis, und er sei nach vorne auf die Tischplatte gekippt. Mehr könne sie zum Geschehen nicht sagen. Und nein, sie kenne noch nicht einmal den Namen des Opfers, da sie den Mann erst wenige Minuten zuvor im Hotel kennengelernt habe.

Sonderburg glaubte der jungen Frau kein Wort und beschloss, einen Versuch zu wagen und sie mit seiner improvisierten Bauchfrage aus der Reserve zu locken: Glauben Sie an Reinkarnation?
Der Inspektor war ein guter Beobachter, und als Regina Zölis auf dem Absatz herumwirbelte, entging ihm nicht das kurze Flackern der Panik in ihren Augen, bevor sie ihm vollkommen gefasst antwortete: Was soll das denn mit dem Mord zu tun haben? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!

Er blickte Frau Zölis mit steinerner Miene in die Augen. Aber innerlich triumphierte Sonderburg. Er war auf der richtigen Fährte. Die Frau wusste etwas, das sie nicht preisgeben wollte. Und er war überzeugt davon, dass dieses Geheimnis mit dem Ermordeten zu tun hatte.

Mittwoch, 16. August 2006

What You Will

Glauben Sie an Reinkarnation?, fragte Inspektor Sonderburg die verstört wirkende junge Frau auf der ansonsten nun menschenleeren Hotelterrasse.

Mit diesem Vorschlag vom Herrn Exzenter wird also nun wunschgemäß meine Urlaubsgeschichte beginnen. Die Abstimmung ist zu Ende, ihr habt es so gewollt. Heute in einem Monat wird das erste Kapitel hier erscheinen.

Es wird mir ein Feste sein! Take away the fool!


Nachtrag am 15.9.: Meine Lieben, ich bin schon so gut wie in den Urlaub entschwunden. Meine Sommergeschichte nimmt derweil hier ihren Lauf, wenn ich alles richtig eibgestellt habe.
Zur Not gibt es einen Hausmeister, ich habe dem Mister den Generalschlüssel in die Hand gedrückt. Um klemmende Technik geradezubiegen oder pöbelnde Passanten hinauszuwerfen. Aber das wird er bestimmt nicht zu tun brauchen. Sie werden sich doch gewiss alle benehmen?

Kommentare bleiben bis auf weiteres von mir unbeantwortet. Wo ich hinfahre, gibt es kein Internetz. -- Viel Spaß mit der Geschichte!>

Warum?

Nicht zu bloggen ist auch keine Lösung.
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